Ein Jahr nach Veröffentlichung der Missbrauchsstudie

, Bistum Münster

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Mitarbeitende im Bistum,

heute ist es auf den Tag ein Jahr her, dass die Universität Münster die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung des Historischen Seminars zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster veröffentlicht hat. Wenige Tage nach der Veröffentlichung habe ich auf unterschiedlichen Wegen – auch im unmittelbaren Kontakt mit Ihnen – versucht, deutlich zu machen, welche Maßnahmen aus meiner Sicht ergriffen werden müssen, um die Vergangenheit weiter aufzuarbeiten und sexuellen Missbrauch im Bistum Münster künftig zu verhindern. Bereits im vergangenen November habe ich darüber informiert, was zwischenzeitlich bereits erfolgt ist und wie der Stand der Umsetzung bei einzelnen Maßnahmen ist. Das möchte ich heute noch einmal tun. Heute Abend findet zu diesem Thema in der Akademie Franz Hitze Haus eine Veranstaltung statt, bei der ich unter anderem mit einem Betroffenen (Peter Tenbusch) und Prof. Dr. Thomas Großbölting, dem verantwortlichen Verfasser der Studie, ins Gespräch kommen werde. 

Bevor ich auf einzelne Maßnahmen eingehe, möchte ich noch einmal das unterstreichen, was immer wieder aufs Neue betont werden muss: Der Kampf gegen sexuellen Missbrauch ist keineswegs vorbei. Mein Ziel ist und bleibt es, Maßnahmen zu ergreifen, die sexuellen Missbrauch verhindern. Betroffene müssen konkret erfahren, dass es keine hohle Phrase ist, wenn ich versichere: Betroffene haben neben dem Anspruch auf eine unabhängige Aufarbeitung vor allem einen Anspruch auf ein verändertes Verhalten kirchlicher Verantwortungsträger. Sie haben einen Anspruch auf das Eingeständnis von Fehlern, auf ehrliche Reue und wirkliche Umkehr, die sich in der Haltung und im Verhalten kirchlicher Verantwortungsträger zeigen muss. Und Täter sollen wissen, dass ich mich ihnen gegenüber von einer Haltung der Nulltoleranz leiten lasse. Das gilt nicht nur bei sexuellem Missbrauch im engeren juristischen Sinn, sondern es gilt auch, wenn es sich um sogenannte grenzüberschreitende und unangemessene Verhaltensweisen handelt. Gerade wenn ein solches Verhalten nicht mit rechtlichen Maßstäben zu messen ist, wird immer wieder deutlich, wie schwierig es ist, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen und umzusetzen.

Ich möchte einige Punkte nennen, die deutlich machen sollen, was wir seit der Veröffentlichung der Studie getan haben. Dabei werde ich nicht das wiederholen, was ich bereits Ende November in der ersten „Zwischenbilanz“ gesagt habe. Das können Sie bei Interesse im Internet nachlesen. Ich gehe vielmehr nur auf neuere Entwicklungen ein.

  • Als Erstes möchte ich eine weitere unmittelbare Begegnung mit Betroffenen erwähnen. Auf Einladung der Betroffeneninitiative im Bistum Münster habe ich mich im März mit rund 60 Betroffenen getroffen, daneben gab es verschiedene Treffen mit einzelnen betroffenen Personen. Für mich sind diese Treffen wichtig, weil sie mir immer wieder neu vor Augen führen: Es geht beim sexuellen Missbrauch durch Kleriker, Ordenschristen und andere kirchliche Mitarbeitende sowie bei seiner Vertuschung durch kirchliche Verantwortungsträger nicht um „Fälle“, sondern um Menschen, denen schwerstes Leid zugefügt wurde und die darunter oft ein Leben lang leiden. Die Betroffenen hatten mir im Vorfeld der Veranstaltung eine Reihe von Fragen gestellt. Diese und meine Antworten darauf können Sie bei uns im Internet nachlesen.
     
  • Von dieser Perspektive habe ich versucht, mich auch dann leiten zu lassen, wenn Betroffene uns in jüngerer Vergangenheit erstmals einen sexuellen Missbrauch gemeldet haben. Die Taten liegen hierbei oft schon länger zurück. Wir ernten, wenn wir das Geschehen öffentlich machen, von unterschiedlichen Seiten Kritik: Von Pfarreien, die sich schlecht informiert fühlen; von Medien, die sich wundern, warum zwischen der Meldung durch Betroffene und der Veröffentlichung zuweilen Monate vergehen; von den Anwälten der Beschuldigten, die uns äußerungsrechtliche oder kirchenrechtliche Versäumnisse vorwerfen.

    Dazu möchte ich Folgendes sagen:
    -     Ich nehme die Wünsche der Betroffenen ernst. Veröffentlichungen erfolgen in Absprache mit den jeweiligen Betroffenen und nur dann, wenn es vorab mit ihnen abgestimmt wurde.
    -     Ich nehme die Persönlichkeitsrechte der Beschuldigten ernst und versuche diese abzuwägen mit dem berechtigten Interesse der Öffentlichkeit, möglichst umfängliche Informationen auch darüber zu erlangen, wer für die Taten verantwortlich ist. Das ist immer eine Einzelfallentscheidung, bei der es unter anderem auch darauf ankommt, welche Stellung eine beschuldigte Person eingenommen hat oder einnimmt.
    -    Ich nehme die neue Interventionsordnung der Deutschen Bischofskonferenz ernst. Diese bezieht sich ausdrücklich auch „auf Handlungen unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit, die im pastoralen […] Umgang mit […] schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen eine sexualbezogene Grenzverletzung oder einen sonstigen sexuellen Übergriff darstellen.“ Zu dieser Personengruppe gehören, so heißt es weiter, auch Menschen, „die einem besonderen Macht- und/oder Abhängigkeitsverhältnis unterworfen sind.“ In diesem Zusammenhang sind gerade auch in der jüngsten Vergangenheit in unserem Bistum unangemessene Verhaltensweisen von Priestern gegenüber anderen erwachsenen Personen in den Fokus gerückt. Ich habe jeweils Maßnahmen gegen die beschuldigten Priester ergriffen und werde solche Verhaltensweisen auch weiterhin nicht tolerieren.
     
  • Die Arbeitsgruppe, die überlegt, wie im Umfeld der Bischofsgruft im St.-Paulus-Dom und generell mit Gräbern von Tätern, Beschuldigten und Vertuschern umgegangen werden soll, hat zwischenzeitlich Vorschläge erarbeitet. Diese sowie alle anderen Vorschläge, die von Dritten gemacht wurden, werden auf unserer Internetseite zum sexuellen Missbrauch veröffentlicht. Die Gruppe besteht aus Vertretungen der Betroffenen, des Diözesanrates, des Diözesankomitees und des Domkapitels. Was die Empfehlungen für den Dom betrifft, schlägt die Gruppe nun einen Austausch mit dem Domkapitel vor. Pfarreien, auf deren Friedhöfen Täter beerdigt sind, werden verschiedene Vorschläge zum Umgang damit gemacht, und es wird ihnen empfohlen, sich selbst mit der Thematik auseinanderzusetzen und eigene Entscheidungen zu treffen. Zudem wird vorgeschlagen, an einem Tag im kommenden Jahr in allen Pfarreien unseres Bistums eine Trauer-Blutbuche zu pflanzen und mit einer Gedenktafel zu versehen.
     
  • Der Kirchensteuerrat hat im Mai 1,75 Millionen Euro für einen noch zu gründenden Trägerverein der Unabhängigen Aufarbeitungskommission in unserem Bistum bewilligt. Ich habe großen Respekt vor den Frauen und Männern, die sich ehrenamtlich in dieser Kommission engagieren. Mir ist es im Blick auf die Kommission wichtig, dass diese völlig unabhängig von mir oder dem Bistum tätig sein wird. Ich habe die Mitglieder nicht berufen und diese sind an keinerlei Weisungen durch mich gebunden. Die Kommission ist für mich das klare Signal: Die unabhängige Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs geht im Bistum Münster weiter. 

    Mit der Gründung der Kommission werden die bisherigen Angebote des Bistums für Betroffene sexuellen Missbrauchs aber nicht überflüssig. Insbesondere die Ansprechpersonen für Betroffene und die Interventionsstelle waren in den vergangenen Jahren bereits in vielen Fällen wichtige Anlaufstationen und eine große Hilfe für viele Betroffene. Diese Arbeit im Kampf gegen sexuellen Missbrauch hat sich sehr bewährt. Von daher werde ich hieran ebenso festhalten wie am ständigen Beraterstab, der mich beim Vorgehen im Kampf gegen sexuellen Missbrauch auch weiterhin unterstützen wird. Und selbstverständlich werden wir auch in unseren Präventions-Anstrengungen nicht nachlassen.
     
  • Ende vergangenen Jahres habe ich gemeinsam mit dem Bistum Osnabrück, der Deutschen Bischofskonferenz und dem Orden der Thuiner Franziskanerinnen ein Forschungsprojekt zum geistlichen Missbrauch in Auftrag gegeben. Ziel der Studie ist es, grundlegende Faktoren zu ermitteln, die geistlichen Missbrauch begünstigen, und daraus Perspektiven für die Prävention zu entwickeln. Ein wissenschaftliches Team der Universität Münster unter der Leitung von Prof. Dr. Judith Könemann (Institut für Religionspädagogik und Pastoraltheologie) wird zu Grundlagen und möglicher Prävention von geistlichem Missbrauch forschen.
     
  • Die Kirchenrechtler Prof. Dr. Thomas Schüller und Dr. Thomas Neumann hatten angeboten, die mögliche Ordnung einer diözesanen Verwaltungsgerichtsbarkeit zu formulieren. Das haben sie getan, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Sie haben mir ihre Überlegungen in der vergangenen Woche vorgestellt. Bis Anfang September werden die beiden nun den Entwurf einer möglichen Ordnung für eine Schiedskammer vorlegen, deren Errichtung im kirchlichen Recht jedem Diözesanbischof ermöglicht wird. Diesen Entwurf werde ich dann noch einmal mit den Weihbischöfen und dem Generalvikar besprechen. Ziel dieser Kammer, die sich an den Einrichtungen in anderen Ländern wie etwa Frankreich und den Niederlanden orientieren soll, ist es, Menschen die gerichtliche Überprüfung ihrer Rechte gegen einen sie betreffenden kirchlichen Verwaltungsakt zu ermöglichen. Kirchliche Verwaltungsakte werden so durchschaubarer, transparenter und rechtlich überprüfbar. Ich selbst stelle mich gerne den Urteilen solcher Verwaltungsgerichte und damit einer unabhängigen Kontrollinstanz. Dabei war und ist es mir wichtig, dass dies kirchenrechtlich auf sicheren Füßen steht.

    Außerdem werden die beiden Kirchenrechtler einen Vorschlag für die Einrichtung einer Disziplinarkammer vorlegen, die sich mit Disziplinarmaßnahmen gegen Kleriker im sogenannten „Graubereich“ befassen wird. Damit soll die Möglichkeit geschaffen werden, in Fällen, die strafrechtlich nicht relevant sind, in denen es aber zum Beispiel ein grenzüberschreitendes, unangemessenes Verhalten gibt, Disziplinarmaßnahmen zu verhängen. Dies wäre ein wichtiges Instrument, um eine derzeit bestehende Regelungslücke zu schließen, und gewährt zugleich Rechtssicherheit und Transparenz nach rechtsstaatlichen Standards für beide betroffenen Parteien durch ein geregeltes Verfahren.
     
  • Einige Betroffene von sexualisierter Gewalt haben sich auch seelsorgliche Angebote durch uns für sie gewünscht. Gemeinsam mit Betroffenen hat die Pastoralreferentin Monika Stammen hierzu Überlegungen angestellt und Anfang Juni eine erste spirituelle Veranstaltung durchgeführt, die von den Teilnehmenden positiv aufgenommen wurde. 
     
  • Ich habe gemeinsam mit den vier anderen Bistümern in Nordrhein-Westfalen ein Projekt zur Evaluation der Prävention sexualisierter Gewalt in Auftrag gegeben. Ziel des Projekts ist die Gewinnung empirischer Erkenntnisse zum Nutzen und zur Wirkung bestehender Präventionsmaßnahmen gegen sexualisierte Gewalt. Aus diesen Erkenntnissen sollen Konsequenzen zur Weiterentwicklung der Prävention im kirchlichen Bereich abgeleitet werden.
     
  • Im November hatte ich angekündigt, dass alle Pfarreien kostenfrei ein Exemplar der Studie der Universität Münster zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster erhalten sollen. Das ist geschehen, und ich habe die Pfarreien gebeten, dieses Buch interessierten Menschen zugänglich zu machen. Damit bin ich einer Anregung, die aus dem Kreis der Betroffenen an mich gerichtet wurde, gefolgt. Warum erwähne ich das hier noch einmal? Ein Betroffener hatte sich das Exemplar der Studie, das an die Propsteipfarrei St. Mariä Himmelfahrt Kleve gegangen war, dort ausgeliehen. In der Studie fand der Betroffene keinen Hinweis auf den Priester, der ihn missbraucht hatte. Er wandte sich daraufhin an Propst Johannes Mecking, der umgehend den Kontakt zu unserem Interventionsbeauftragten Peter Frings vermittelte. In Absprache zwischen dem Betroffenen und Peter Frings erfolgte vor wenigen Wochen die Veröffentlichung. Inzwischen haben sich schon weitere Betroffene gemeldet, die dem Priester sexuellen Missbrauch vorwerfen. Für mich ist das ein Beispiel, wie Aufarbeitung weiter geschehen kann und muss.
     
  • Im November hatte ich auch bereits gesagt, dass Personalentscheidungen künftig transparenter, nachvollziehbarer und partizipativer erfolgen müssen. Auch an diesem Thema sind wir dran. Es wurden Überlegungen angestellt, wie das konkret geschehen kann. Im August beraten wird dazu noch einmal in der Personalkonferenz. Dann wird – wie ebenfalls schon zugesagt – an diesen Überlegungen auch das Seelsorge-Personal selbst und bei den Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten zudem die Mitarbeitervertretung zu beteiligen sein.  
     
  • Einen letzten Hinweis möchte ich noch geben: Auf dem Synodalen Weg haben wir uns mit großer Mehrheit für die Einführung eines sogenannten Synodalen Rates für die katholische Kirche in Deutschland ausgesprochen. In Rom gibt es in diesem Zusammenhang die Sorge, ich würde als Bischof meine Letzt-Verantwortung für Glaube, Sitte und Recht abgeben wollen. Darum geht es aber gar nicht. Ziel ist es vielmehr, einen guten Weg des Miteinanders von Bischöfen und Nicht-Bischöfen zu finden. Das ist auch ein deutliches Zeichen, dass Macht und Verantwortung in der katholischen Kirche neu verteilt werden. Wenn wir wissen, dass Machtkonzentrationen in der Vergangenheit sexuellen Missbrauch begünstigt haben, dann müssen wir das ändern. 
     

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn ich diese Maßnahmen genannt habe, dann nicht, um Ihnen eine „Erfolgsbilanz“ zu präsentieren. Ich hoffe nur, Ihnen deutlich gemacht zu haben, dass ich mich – mit vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – weiter mit großer Ernsthaftigkeit dem Kampf gegen sexuellen Missbrauch stelle. Ich kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen; ich kann aber dafür sorgen, dass sie weiter aufgearbeitet wird, und ich kann Maßnahmen ergreifen, um sexuellen Missbrauch im Raum der Kirche künftig zu vermeiden. Manche Veränderungen gehen mir wie Ihnen dabei sicher nicht schnell genug; anderes geht manchen nicht weit genug; wieder anderen geht es schon viel zu weit. Wir kommen aber voran. Dabei ist und bleibt es mir wichtig, mich meiner Verantwortung in diesem notwendigen Prozess nicht zu entziehen. Zugleich kann, werde und will ich diesen Weg nur gemeinsam mit Ihnen gehen.

Für Ihr Mitgehen, Ihre Unterstützung und Ihre Begleitung, gerade auch im Gebet, danke ich Ihnen von Herzen.

Ihr  

+ Felix Genn