Sie ist 21 Jahre jung, Studentin und hat den größten Teil ihres Lebens noch vor sich. Ganz anders als die Menschen, mit denen Wiebke Grunthal in den vergangenen drei Monaten gesprochen hat. Mehrere Stunden täglich hat die Münsteranerin, die im 8. Semester Medizin studiert, im Universitätsklinikum Münster (UKM) verbracht, und für ihre Doktorarbeit mit Menschen gesprochen, die in der letzten Phase ihres Lebens palliativ betreut werden. Ihr Ziel: Herausfinden, wie spirituelle Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten am Lebensende besser erfasst werden können. Mit ihren Ergebnissen hat Wiebke Grunthal Veränderungen angestoßen – unter anderem in der Klinikseelsorge des UKM, die sich künftig unter einem anderen Namen präsentiert.
„Ich fand es schon immer spannend, mich mit den existenziellen Fragen auseinanderzusetzen, die am Ende eines Lebens oft drängen“, erzählt Wiebke Grunthal. Schon im ersten Semester knüpfte sie über ein Seminar Kontakte zur Palliativstation, absolvierte dort 2021 zwei Praktika und entschied sich für ihre Doktorarbeit ebenfalls für den Bereich. „Mich spricht das ganzheitliche Kernprinzip der Palliativmedizin, das die vier Bedürfnisdimensionen physisch, psychisch, sozial und spirituell berücksichtigt, an“, erklärt die Studentin. Weil sich recht gut herausfinden lasse, welche Bedürfnisse ein Patient in den ersten drei Bereichen hat, um mehr Lebensqualität zu erlangen, konzentrierte sich die 21-Jährige auf die vierte Dimension.
Im engen Austausch mit Prof. Dr. Philipp Lenz, dem Ärztlichen Leiter der Palliativmedizin im UKM, und Dr. Leo Wittenbecher, dem leitenden Klinikpfarrer, entwickelte sie ihr Forschungsprojekt: In Gesprächen mit 100 Patienten wandte Wiebke Grunthal einen Fragenkatalog an, den sogenannten Spiritual Needs Questionnaire von Prof. Dr. Arndt Büssing von der Universität Witten-Herdecke. „Er enthält Fragen nach dem Bedürfnis, Kraftquellen und inneren Frieden zu finden oder sich selbst oder einer anderen Person zu vergeben“, nennt die Studentin Beispiele. Oftmals entwickelten sich daraus intensive Gespräche, die Wiebke Grunthal nicht missen möchte: „Es gab keinen Tag, an dem ich nicht aus dem Klinikum gegangen bin und dankbar war für das, was ich von Menschen in einer anderen, so besonderen Lebenssituation lernen durfte.“
„Begegnung ist der Schlüssel, um die Wirklichkeit des Spirituellen zu aktivieren“, ist aus Sicht von Wittenbecher ein zentrales Ergebnis der Studie. Sie habe gezeigt, dass – auch wenn die Frage nach einem spirituellen Bedürfnis im Erstgespräch verneint werde – durchaus ein Bedürfnis vorhanden sein kann, das sich erst im intensiven Gespräch zeige. Dies sei deshalb so wichtig, bestätigt auch der Ärztliche Leiter, weil Patientinnen und Patienten alle Kräfte mobilisieren möchten, um ein erfülltes Lebensende zu gestalten. „Die spirituelle Ebene ist deshalb eng mit der psychischen Gesundheit verknüpft“, weiß Lenz.
Wittenbecher ist es deshalb wichtig, die Bedeutung des multiprofessionellen Teams in der Palliativmedizin hervorzuheben: „Professionelle Seelsorge im Gesundheitswesen kann nur dort wirksam werden, wo sie mit anderen Berufsgruppen zusammenarbeitet,“ sagt Wittenbecher – und begründet damit eine Umbenennung, für die Wiebke Grunthal mit ihrer Doktorarbeit den Anstoß gegeben hat: Die frühere Klinikseelsorge heißt künftig „Spiritual Care/Seelsorge am UKM“. Auch wenn Spiritualität hierzulande noch viele konfessionelle Aspekte aufweise, gelte es auch, den Blick zu weiten, um Ansprechpartner auch für jene zu sein, die sonst nicht auf uns zukommen.
Sowohl Wittenbecher als auch Lenz freuen sich über die Initiative der Studentin, die deutlich macht, dass die Begleitung am Lebensende ein gemeinsames Anliegen von Medizin und Seelsorge ist. „Besonders bemerkenswert finde ich, dass der Impuls von Frau Grunthal ausgegangen ist“, sagt der Ärztliche Leiter und räumt damit mit einem Vorurteil auf, junge Erwachsene würden sich wenig bis gar nicht mit dem Lebensende beschäftigen. Dass die Palliativmedizin im UKM künftig Teile des Fragebogens fest in den Ablauf für ein Erstgespräch mitaufnehmen wird, zeige die Qualität der Arbeit der Studentin, die bereits an anderer Stelle gewürdigt wurde: Bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin in Aachen 2024 erhielt Wiebke Grunthal für ihr wissenschaftliches Poster eine Auszeichnung.