Müntefering gegen Beihilfe zur Selbsttötung

Der Mann weiß, wovon er spricht. "Wir müssen das Sterben auch zulassen": Dieser Satz klingt bei Franz Müntefering wie die Zusammenfassung der Erfahrungen eines 75-jährigen Lebens.

Ohne jeden Pathos berichtet der frühere SPD-Vizekanzler und Minister am 4. Mai in der Katholischen Landvolkshochschule Schorlemer Alst in Freckenhorst (LVHS), wie er zwei Menschen in den Tod begleitet hat, zuerst seine Mutter und dann seine Ehefrau. Als Letztere 2007 sterbenskrank war, legte der damalige Vizekanzler in der Großen Koalition seine Ämter nieder, um ihr beim Sterben beizustehen. Das verstehe er unter aktiver Sterbehilfe, und nicht, was politisch unter dem Label Liberalisierung der Beihilfe zur Selbsttötung diskutiert werde, betonte Müntefering in seinem Vortrag ,Helfen und helfen lassen – Gedanken zum Sterben‘. Der Bundestag unternimmt derzeit einen neuen Anlauf, die gesetzliche Regelung für die assistierte Beihilfe zum Suizid zu novellieren.

"Die Fahne der Selbststimmung wird bei uns sehr hoch getragen", stellte Müntefering fest. Darunter fällt für ihn auch der erwartete Gruppenantrag der Bundestagsabgeordneten Lauterbach (SPD), Hintze (CDU) und Wöhrl (CSU), die sich für eine Liberalisierung der begleiteten Selbsttötung bei begrenzter Lebenserwartung einsetzen. Doch mit dem Adjektiv begrenzt beginnen für Müntefering auch gleich die Definitionsprobleme. "Was ist begrenzt? Drei Tage, drei Wochen oder drei Jahre?", wandte er sich an seine Zuhörer. Auch fragte er, ob eine Demenzerkrankung gleichbedeutend mit einer begrenzten Lebenserwartung sei.

Der Annahme, dass älter zu werden, immer auch bedeute, krank und pflegebedürftig zu werden, widersprach der SPD-Politiker, der als Arbeits- und Sozialminister zwischen 1992 und 1995 in Nordrhein-Westfalen die Einrichtung der ersten Hospize förderte. 80 Prozent der heute 80-Jährigen seien in der Lage, sich selbst zu versorgen, wenn auch mit Hilfe. "Sich helfen zu lassen, gehört zum Leben", unterstrich Müntefering. Deshalb sei es wichtig, die Pflegeversicherung weiter auszubauen, wie es gerade geschehe. "Die Pflegeversicherung ist eine sinnvolle Ergänzung", führte der Redner weiter aus.

Ausdrücklich begrüßte er, dass die Pflegeversicherung jetzt auch Demenzkranke einbeziehe.

Von Beginn ihres Lebens an seien die Menschen auf Hilfe angewiesen, sonst kämen sie gar nicht zur Welt, konstatierte Müntefering. Vehement widersprach er dem früheren Intendanten des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR), Prof. Udo Reiter. Dieser hatte den Freitod gewählt, weil er sich ein weiteres Leben im Rollstuhl im Hinblick auf ein Nachlassen seiner körperlichen wie geistigen Kräfte nicht vorstellen konnte oder wollte. Reiters Plädoyer für einen ärztlich begleiteten Suizid hielt Müntefering die Verantwortung jedes Einzelnen für das Gemeinwesen entgegen. "Demokratie ist kein Schaukelstuhl", sagte er. Das Recht auf Selbstbestimmung ende dort, wo die Rechte anderer berührt würden.

Eindringlich warb Müntefering für das Anfertigen einer Patientenverfügung und einer Betreuungsvollmacht. Von dieser Möglichkeit, die medizinischen Modalitäten im Fall einer schweren Erkrankung festzulegen, werde immer noch zu viel wenig Gebrauch gemacht.

Ebenso entschieden warnte Müntefering vor jeglicher Liberalisierung der Rechtslage. Sie berge immer die Gefahr des Missbrauchs. So seien in den Niederlanden bereits demenzkranke 100 Menschen ärztlich begleitet getötet worden. Dabei stelle sich die Frage, wer in ihrem Fall die Entscheidung getroffen habe.

Die meisten Menschen, die sich mit Suizidgedanken trügen, fühlten sich nutzlos, seien einsam, verfügten über keine sozialen Kontakte. "In Deutschland ist es leichter, mit 80 eine neue Hüfte zu bekommen als etwas fürs Gemüt", gab Müntefering zu bedenken. Er appellierte an seine Zuhörer, Bekanntschaften und Freundschaften intensiv zu pflegen.

Dem Bundestag, dem er nicht mehr angehört, bescheinigte Müntefering, das Thema mit dem angemessenen Ernst zu behandeln. "Es eignet sich nicht für Parteibeschlüsse", stellte er klar. Nachdrücklich forderte der Referent, Sterbevereine zu verbieten, weil sie immer gewinnorientiert arbeiteten.

Nach einer Stunde eröffnete LVHS-Direktor Michael Gennert, der den prominenten Gast eingangs begrüßt hatte, die Diskussion. Er hatte zuvor den Vortrag als aktuellen Beitrag zum Krüßingfest in Freckenhorst bezeichnet.

Text: Bischöfliche Pressestelle
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