„Option für die Armen“

, Stadtdekanat Münster

Simone Weil, die französische Lehrerin und Philosophin, macht im Frankreich der 1930er Jahre ein Experiment: Sie arbeitet neun Monate lang in verschiedenen Fabriken. Ihre er-schütternden Erfahrungen hält sie in ihrem „Fabriktagebuch“ fest. „Was gewann ich bei diesem Experiment? Das Gefühl, kein Recht zu besitzen … Ich arbeitete wie eine Sklavin.“ Wer meint, es gäbe diese Form versklavender Arbeit im Europa des 21. Jahrhunderts nicht mehr, irrt. „Es gibt sie vor unserer Haustür“, sagt Prälat Peter Kossen. Der Pfarrer aus Lengerich war einer der Referenten beim Kontaktseminar „Option für die Armen“ an der Katholischen Hochschule (KatHO) NRW Abteilung Münster.

Pfarrer Peter Kossen

Pfarrer Peter Kossen aus Lengerich sprach bei einem Seminar an der KatHO über moderne Sklaverei in der Fleischindustrie.

© Theresa Frye

Kossen spricht Klartext: In der fleischverarbeitenden Industrie großer westfälischer und niedersächsischer Firmen arbeiten Tausende EU-Arbeitsmigrantinnen und -migranten unter menschenunwürdigen und ausbeuterischen Bedingungen. Sie sind damit Teil eines Systems, „das tödlich für ganz viele“ ist, sagt Kossen. Den Preis für billiges Fleisch zahlen nicht nur die rumänischen und bulgarischen Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern auch die Landwirte und Tiere und die gesamte Ökologie. Am wenigsten zahle der Konsument.

Das Beispiel „Billigfleisch“ zeige auf: Argumente wie „nur so könnten sich auch Menschen mit kleinem Geldbeutel Fleisch leisten“ sind unredlich, betont Kossen. Sie ignorieren die Frage, wo Armut anfängt und dass Armut die Menschen dazu zwingt, Arbeitsverhältnisse einzugehen, in denen sie ausgebeutet werden und keine Möglichkeit haben, Rechte einzuklagen. Und viele schauen weg. So funktioniere das System.

Die prekäre Lage insbesondere von Arbeitsmigrantinnen und -migranten bestätigte auch Bernd Mülbrecht von der Beratungsstelle „Europa. Brücke. Münster“. Insbesondere Familien aus den EU-Ländern Bulgarien und Rumänien seien auf Unterstützung und Beratung angewiesen, um der Obdachlosigkeit zu entgehen und Zukunftsoptionen durch Arbeitsvermittlung, Gesundheitsversorgung und Beschulung der Kinder zu erhalten. Die Förderzusage für das neue Projekt „Brückenschlag“ sei hier ein zentraler Baustein.

Yanica Grachenova, Sozialpädagogin beim Gesundheitsamt der Stadt Münster, bietet mit Ehrenamtlichen im „Projekt Marischa“ Beratung und Begleitung für die zu 99 Prozent aus Bulgarien stammenden Frauen auf dem münsterischen Straßenstrich an. Das wirtschaftliche und soziale System in dem jeweiligen Land mache deutlich, dass vor allem Bildungsarmut eine der Ursachen ist, warum Frauen außer der Prostitution keine andere Realität kennen. „Viele Frauen haben in ihrem Heimatland nur eine geringe Schulbildung erhalten. Sie wissen nicht, dass es andere Möglichkeiten für ihr Leben gäbe“, sagt die Sozialpädagogin.

In der Textilbranche, die zunehmend billige Ware auf den Markt wirft, gibt es die gleichen Mechanismen wie in der Fleischindustrie. Für Franziska Menge von der Christlichen Initiative Romero zahlen den wahren Preis der „Fast Fashion“ die 60 Millionen Menschen, die weltweit in Textilfabriken arbeiten, aber nicht nur sie. Durch den hohen CO2-Ausstoß, durch Chemikalien und Altkleider-Müllberge zahlt ebenso die Natur. Kritischer Konsum und Menschenrechtsarbeit sind auch in diesem Bereich konkrete Mittel auf dem Weg zu globaler Gerechtigkeit.

An dem einwöchigen Seminar nahmen 45 Ordensleute, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter aus ganz Deutschland sowie Studierende der KatHO teil. Bei den „Besuchen vor Ort“ lernten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer drei Einrichtungen kennen, die in verschiedenen sozialarbeiterischen Feldern Menschen im Bereich „Arbeit“ unterstützen: „FAGA – Fachstelle zur Ableistung gemeinnütziger Arbeit“, „Chance e.V.“ und das „Kettelerhaus“ der Bischof-Hermann-Stiftung. Sie informierten sich außerdem über die Möglichkeiten altengerechter, inklusiver Quartiersentwicklung. Christine Menke vom Sozialamt der Stadt Münster stellte anhand des Masterplans von Münster konkrete Handlungsmöglichkeiten vor.

Das Kontaktseminar „Option für die Armen“ fand in diesem Jahr bereits zum 30. Mal statt.

Text: Prof. Dr. Andrea Tafferner