Ihre Gedanken zur Erinnerungskultur, zur Menschenwürde und zum Gemeinsinn teilte am Mittwoch, 21. August, die emeritierte Professorin Aleida Assmann bei den DomGedanken. Sie forderte direkt zu Beginn den Besucherinnen und Besuchern im St.-Paulus-Dom auf, diese Gedanken weiterzudenken. Dazu gab Assmann, die die Idee des kulturellen Gedächtnisses und der Erinnerungskultur geprägt hat, ihnen während ihres Vortrages „Brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag?“ verschiedene Anstöße.
Neben der Erinnerungskultur, die eine wichtige demokratische Aufgabe sei, gehöre zur politischen Kultur ein Menschenbild, das neben dem radikalen Individualismus den Gemeinsinn nicht vergisst. Auf unterschiedlichen Wegen näherte sich Assmann dem ersten Satz der Verfassung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Er müsse als Apell gelesen werden und eröffne die Reihe der Grundrechte. Aber er formuliere selber kein einklagbares Recht. „Es handelt sich eher um einen Wert, der die gesamte Verfassung durchdringt“, sagte Assmann.
Er sei eine große und ewige Mahnung, in die die Erinnerung an die NS-Vergangenheit eingeschrieben sei. 40 Jahre habe es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gedauert, bis eine neue, selbstkritische Perspektive in der Erinnerungskultur entstanden sei, das Bewusstsein für eigene Verbrechen geschärft und der Blick auf die Opfer des Holocaust gelenkt wurde. Die Menschenrechte seien der moralische Kern der Demokratie und der europäischen politischen Kultur, die nach 1945 neu geschaffen wurde. „Das wird nirgendwo so klar wie in Deutschland, wo in der Zeit des kolonialen Rassismus und der antisemitischen NS-Ideologie, die Menschen in wertvoll und wertlos aufgeteilt und zur Ausbeutung und zur Vernichtung freigegeben wurden“, betonte Assmann.
Einen engen Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Menschenpflichten habe schon Ende der 1940er Jahren Mahatma Gandhi formuliert. „Es war sein Anliegen, die Menschenrechte aus dem Vakuum ihres abstrakten und rein philosophischen Ursprungs herauszuholen und kulturell einzubetten und abzustützen. Er wünschte sich, dass Menschenrechte Teil des politischen Lebens und einer politischen Kultur werden als ein unlösbares Verhältnis der Gegenseitigkeit, als einen Kreislauf von geben und nehmen“, erläuterte die Wissenschaftlerin. Ohne eine politische Kultur des „Sprechens für“ im Namen bedürftiger Anderer blieben die individuellen Menschenrechte wirkungslos. Die politischen Rechte in einer Demokratie seien von ihrer Sozialeinbettung nicht zu trennen. Schließlich bedeute Leben Teilhabe, also ein Eingebundensein in soziale Bezüge.
„Der Diskurs der Öffentlichkeit ist zurzeit von einem schrillen parteipolitischen Gezänk, das meist der eigenen Profilierung dient und oftmals ein, die Menschen einbeziehendes Problembewusstsein und gemeinsames Nachdenken über konstruktive Lösungen verhindert“, hielt die Referentin fest. Aber vielleicht erneuere sich die Politik nicht nur aus den Parteien heraus, sondern auch aus den Impulsen der Zivilgesellschaft. „Menschenrechte sind kein Selbstläufer. Sie brauchen eine gesellschaftliche Einbettung. Auch das Recht bedarf der Stütze und der Ergänzung durch eine Gesellschaft, die bereit ist, Individualismus mit Gemeinsinn zu verbinden“, hob Assmann hervor. Demokratie brauche Solidarität und Gemeinsinn im Zusammenspiel von Menschenrechten und Menschenpflichten. „Ein solches Menschenbild bedeutet: Jeder bedarf des Schutzes und der Fürsorge anderer Menschen. Er hört selbst auf, Mensch zu sein, sobald ihm das Leben anderer, die nicht zu seiner Gruppe gehören, gleichgültig wird“, erläuterte Assmann. Diffamierung und Abwertung, Abschreiben von Menschen als gleichwertige Mitmenschen, dafür standen früher die Juden und heute vulnerable Gruppen wie die Migranten und ethnokulturelle Minderheiten.
„Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Wer in die falsche Kategorie gerät, kann nicht mehr mit Aufmerksamkeit, Empathie und Fürsorge rechnen. Sie verschwinden in den Zahlen von Statistiken“, machte sie deutlich. Die Menschenwürde sei ein Wert, „den wir uns und anderen schulden. Dieser Grundsatz richtet sich nicht nur an den Staat, sondern spricht auch eine Verpflichtung an die Mitmenschen in der Gesellschaft aus. Eine wehrhafte Demokratie braucht gemeinsinnige Bürgerinnen und Bürger sowie ein Bild vom Menschen als Beziehungswesen, das eingebunden in die Mit- und Umwelt ist und angewiesen auf die Unterstützung anderer“, sagte Assmann am Ende ihres Vortrages.
Pastoralreferent Mathias Albracht dankte ihr für ihre Ausführungen und Denkanstöße. Musikalisch gestalteten Thilo Schmidt an der Orgel und Benedikt Hüls an der Trompete die Veranstaltung.
Die DomGedanken gehen am Mittwoch, 28. August, weiter. Dann spricht Frank Böttcher, Vorsitzender der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft, zum „Klimawandel – was kommt auf uns zu?“. Die Vorträge der Reihe, die von Evonik Industries ermöglicht wird, starten um 18.30 Uhr im St. Paulus-Dom zu Münster und werden im Internet auf www.paulusdom.de sowie www.bistum-muenster.de übertragen.