Verloren unter 100 Freunden

Turkle, Sherry: Verloren unter 100 Freunden. Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern. Aus dem Amerikanischen von Joannis Stefanidis. Die Autorin ist Soziologin und klinische Psychologin und einer der führenden Expertinnen in Amerika für die Frage, welchen Einfluss die Computertechnologie auf den Menschen ausübt.

Turkle, Sherry: Verloren unter 100 Freunden. Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern. Aus dem Amerikanischen von Joannis Stefanidis Riemann Verlag, München 2012; 596 Seiten gebunden; 19,99 €.
Die Autorin ist Soziologin und klinische Psychologin und eine der führenden Expertinnen in Amerika für die Frage, welchen Einfluss die Computertechnologie auf den Menschen ausübt. Im Laufe ihrer über dreißigjährigen Forschungen konstatiert sie eine technologische Revolution von der pragmatischen Nutzung von Heimcomputern hin zur digitalen Dauerkommunikation über E-Mail, SMS, IM und einem "Multileben" auf Websites und in sozialen Netzwerken. Wie der Titel schon sagt, geht es in diesem Buch um die Frage, wie die Computertechnologie und die digitale Kommunikation Denken, Gefühlsleben und Beziehungen verändern. Turkle beschränkt sich in ihrem Befragungen auf Kinder und Jugendliche / junge Erwachsene im Alter von 5 – 20 Jahren – auf die so genannten "digitalen Eingeborenen" - diejenigen also, die mit digitaler Kommunikation groß geworden sind.

In Teil I "Die Stunde des Roboters. Neue Freunde in der Einsamkeit" (58 – 257) beschreibt sie an Beispielen den Umgang von Kindern (und Erwachsenen!) mit computergesteuerten Spielzeugen aller Art: Tamagotchi, AIBO (ein computergesteuerter Hund), my real Baby etc, die so programmiert sind, das sie nach Pflege, Fürsorge und Aufmerksamkeit verlangen. Kinder (und Erwachsenen!) antworten darauf mit einer emotional gefärbten Beziehungsaufnahme. Sie sprechen mit den Spielzeugen, unterstellen ihnen Gefühle, trösten sie und trauern um sie , als sie ihnen weggenommen werden bzw. ihre technische Haltbarkeit abgelaufen ist. Ein ähnliches Beziehungsmuster stellt sie gegenüber (humanoiden) Robotern fest. Diese sind nicht für instrumentelle Zwecke konstruiert, sondern als Ersatz für menschliche Lebensbegleiter, zum Einsatz in der Pflege hilfsbedürftiger, dementer oder alter Menschen, als Gesellschafter – sozusagen als "quasi-menschliche" Partner. Viele der beobachteten Personen entwickeln intensive Beziehungen zu den "sozialen Robotern" und ziehen deren Gesellschaft der Gesellschaft mit Menschen vor. Denn sie werden als zuverlässiger, "handhabbarer" und aggressionsfreier erlebt.

In Teil II (260 – 466) "Vernetzt. Neue Einsamkeit unter Freuden" untersucht sie Veränderungen in der Lebens- und Kommunikationskultur durch die neuen Medien: Was bedeutet es für unsere Vorstellung von Authentizität, wenn wir im Netz ein paralleles Leben führen (275) und uns beliebig viele Identitäten in "Second Life" oder "World of Warcraft" zulegen? Was bedeutet es für die Lebensführung, wenn Menschen ihr Leben im Netz attraktiver finden als ihr wirkliches Leben(13)?

Wir leben in Dauerkommunikation, sind immer und überall erreichbar; haben hunderte Freunde in facebook, sind niemals allein und fühlen uns doch einsam und sehnen uns nach "wirklichen" Beziehungen. Weil diese Medien kein echtes Gespräch ermöglichen, sondern nur Kurzinformationen - "was geht ab"?. Beim Chatten, Mailen, Instant Messaging kann man "so tun als ob", kann sich so inszenieren, wie man will, kann andere Leute so schnell "abfertigen", wie man will, bleibt also immer "Herr oder Frau" des Geschehens (353). Den Mühen von Fremdheit und Vertrautheit, Annäherung und Distanz, Verstehen und Nichtverstehen braucht man sich nicht zu stellen. So sieht das Szenario, das Sherry Turkle schildert und für das sie in vielen ihrer Interviews eindrückliche Anhaltspunkte findet.

Ich gebe zu: Bei vielen Ausführungen und protokollierten Gesprächsausschnitten habe ich abgewehrt und dachte "na ja - eben typisch Amerika"! Aber im Grunde stellen sich in diesem Buch Fragen einer Anthropologie im digitalen Zeitalter. Und wenn es zutrifft, dass nicht nur wir unsere Werkzeuge formen, sondern dass wir im Gegenzug auch von ihnen geformt werden (10), dann sind damit z. B. folgende Fragen berührt: Was ist Kommunikation – Was Beziehung? Was macht menschliche Fürsorge aus? Was heißt Authentizität? Welche Bedeutung hat Körperlichkeit für menschliche Identität? Fragen, die zutiefst unser Menschsein betreffen!

Text: Dr. Gabriele Bußmann, Abteilung Schulpastoral
E-Mail: mediothek[at]bistum-muenster.de